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Titel
Die Sozialgeschichte der DDR.


Autor(en)
Bauerkämper, Arnd
Reihe
Enzyklopädie deutscher Geschichte 76
Erschienen
München 2005: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
X, 148 S.
Preis
€ 19,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Gieseke, Abteilung Bildung und Forschung, BStU, Berlin

Mit Arnd Bauerkämpers Darstellung zur Sozialgeschichte der DDR liegt nun der dritte und letzte Band der renommierten und in der Lehre beliebten „Enzyklopädie deutscher Geschichte“ zur DDR vor, neben Titeln zur Innenpolitik von Günther Heydemann und zur Außenpolitik von Joachim Scholtyseck.1 Diese Themenaufteilung durch die Reihenherausgeber mag bei den analogen Bänden zur Bundesrepublik sinnvoll sein, doch stellt sie die Autoren im Falle der DDR vor ein erhebliches Problem. Sie sollen nun nach Innenpolitik und Sozialgeschichte getrennt behandeln, was sich zunehmend als unlösbarer Zusammenhang darstellt: die Beherrschung der ostdeutschen Gesellschaft als alltäglicher Prozess. Im Paradigma von der „Herrschaft als sozialer Praxis“ hat dieser Blick seinen konzeptionellen Niederschlag gefunden. Die Enzyklopädie-Reihe hat diesem Grundfaktum der Diktaturgeschichte im Falle des Nationalsozialismus Rechnung getragen und eine Trennung vermieden, nicht so jedoch bei den DDR-Bänden.

Während Heydemann sich von dieser Aufteilung nicht beirren lässt und trotz des knappen Raums und der Formvorgaben der Reihe (gut 40 Seiten „enzyklopädischer Überblick“, rund 60 Seiten Forschungsstandbericht) bemerkenswert viel Raum für Wirtschaft und Gesellschaft aufwendet, schlägt Bauerkämper einen anderen Weg ein. Trotz des üblichen Bekenntnisses gegen die „history of the people with the politics left out“ und der Pflichtzitate zur „durchherrschten Gesellschaft“ (S. 2) spielt in seinen Erörterungen die tatsächliche Herrschaftspraxis und deren Rückwirkungen auf soziale Strukturen und Handlungsmuster eine erstaunlich geringe Rolle. Er zieht sich ganz auf die Leib-und-Magen-Themen der traditionellen Sozialgeschichte zurück: Arbeiter und Bauern, Auf- und Abwärtsmobilitäten, Betriebsleben und Bildungschancen. Zu diesen Gebieten präsentiert er eine vorzügliche Zusammenfassung des Forschungsstandes.

Vor allem die Phase der sozioökonomischen Durchsetzung der sozialistischen Gesellschaftsordnung bis 1961 mit ihren Enteignungen, der Kollektivierung der Landwirtschaft und der Gegenprivilegierung der eigenen Klientel in Bildung und Aufstiegskanälen erweist sich als gut erforscht und kundig dargelegt. Theoretischer Orientierungspunkt Bauerkämpers sind die Ambivalenzen einer Gesellschaftsordnung, deren Monopolpartei sich einerseits einem modernistischen Glauben an die Planbarkeit sozialer Prozesse hingab, zugleich jedoch nie die Komplexitäten und Heterogenitäten des sozialen Lebens einer Industriegesellschaft akzeptierte. Die DDR erklärt er ganz wesentlich als einen Gegenentwurf zu jenen sozialhistorischen Grundtatbeständen deutscher Geschichte, die in die Katastrophe des Nationalsozialismus geführt haben. Antifaschismus und Egalitarismus misst Bauerkämper daher eine eminente Bedeutung im Legitimationsstreben der SED zu, mit dem sie durchaus auch Erfolge erzielen konnte.

Weniger dicht ist der Forschungsstand für die sozialistische Gesellschaft nach dem Mauerbau, aber für die 1960er und – mit Einschränkungen – 1970er-Jahre diskutiert Bauerkämper neue Prozesse wie die wachsende Tendenz zur Schließung der Aufstiegskanäle, die Eigenheiten der patriarchalischen Frauenpolitik oder die Trends zur Diversifizierung von Lebensentwürfen.

Diesen nützlichen Darlegungen stehen allerdings empfindliche Lücken gegenüber. Erstaunlich ist die theoretische Abstinenz des Bandes. In der Diskussion der DDR-Sozialstruktur entscheidet sich Bauerkämper für einen leicht modifizierten Rückgriff auf das alte Schema der marxistisch-leninistischen Soziologie: zwei Klassen, eine Schicht. Neben den vielbeschworenen Arbeitern, Bauern und der „Intelligenz“ finden lediglich noch „Funktionäre“ Aufnahme in sein Modell. Das Problem der DDR-Statistiken mit ihren unbrauchbaren Kategorien erwähnt er zwar, gemeindet aber die Angestellten den offiziellen Einteilungen folgend umstandslos in die „Arbeiterklasse“ ein und erwähnt erst gar nicht, dass deren opulente Prozentsätze auch jene „Arbeiter ehrenhalber“ einschließen, die über Jahrzehnte in Partei und Staatsorganen als eine Art politische Beamte dienten. Durch diese Kategorienbildung kommt Bauerkämper zu dem Ergebnis, dass die Umwälzung in der DDR neben einer Machtelite von rund 500 bis 600 Personen „nur eine untere Mittel- und die Unterschicht (Arbeiter, Kleinbauern und Angestellte) zurückgelassen“ habe, wobei er offenbar die von ihm mit rund 250.000 bezifferten Funktionäre der unteren Mittelschicht zurechnet (S. 41, 86). Wäre es nicht einen Versuch wert gewesen, theoretische Angebote der allgemeinen Soziologie, bei Marx, Weber, Bourdieu oder anderen, oder aber der Kommunismus- und Stalinismusforschung, bei Kornai oder Fitzpatrick, wenigstens in Erwägung zu ziehen?

Bauerkämpers Bild von der DDR-Gesellschaft bleibt zudem merkwürdig auf die Ökonomie zentriert. Der eigentliche Machtapparat interessiert ihn als soziale Größe überhaupt nicht. Parteisekretäre, Volks- und Geheimpolizisten, Berufssoldaten, Juristen und Mitarbeiter des zivilen Staatsapparates werden schlichtweg ausgeblendet – und zwar unabhängig davon, wie opulent oder schwach der jeweilige Forschungsstand ist. Nicht einmal die Abschaffung des Berufsbeamtentums als Ausgangspunkt des ganz eigenen arbeitsrechtlichen Pfades für die Diener des Parteistaats ist ihm eine Erwähnung wert. Insbesondere die Ausklammerung des hauptamtlichen Apparates und der Mitgliederschaft der SED als entscheidender Mittlerinstanzen zwischen Herrschaftsansprüchen und Bevölkerungsreaktionen hinterlässt eine fatale Lücke. Abgesehen von einigen dürren Bemerkungen zum Nomenklatursystem und zur Avantgardekonzeption liefert der Band weder den Weg zu empirischen Daten noch zum Verständnis für die Lebenshaltung, die die kommunistische Führungsschicht beseelte. Dies gilt sowohl für die militanten Enthusiasten der 1950er-Jahre als auch für die Konservativen und Zyniker der 1970er und 1980er-Jahre.

Gleichermaßen vernachlässigt Bauerkämper die Frage der sozialen Milieus um Kirchen und Kulturszene im Hinblick auf die (etwa im Vergleich zu Polen schwache) Gegenöffentlichkeit. Den Kirchen attestiert er lediglich pauschal einen nicht aufzuhaltenden Bedeutungsverlust im Alltagsleben (S. 24). Kurios sind die knappen Bemerkungen zur Kunst- und Literaturgeschichte der DDR. Phasen des Rigorismus seien „regelmäßig wieder durch eine flexiblere und liberalere Kulturpolitik abgelöst“ worden (S. 27). Trotz Zensur hätte der SED-Kurs Künstlern und Literaten „Handlungsräume“ (S. 27) gelassen. Dieses fast harmonische Bild eines irgendwie ausgeglichenen Gebens und Nehmens übersieht die intellektuellen Kosten der schubweisen Auszehrung des künstlerischen Milieus durch den Brain-Drain Richtung Westen und die Resignation der Dagebliebenen.

Da Bauerkämper die Sozialgeschichte der DDR vorrangig von ihrem Anfang her schreibt, beschäftigt ihn auch nur hier und dort die Frage nach dem gesellschaftlichen Sprengstoff, der in den 1980er-Jahren Hunderttausende in den Abschied per Ausreiseantrag und schließlich im Herbst 1989 Millionen gegen die Parteidiktatur auf die Strasse trieb. Als Ursachen des Zerfalls der SED-Diktatur nennt er beiläufig das nicht hinreichend eingelöste Gleichheitspostulat (S. 66) und die Schließung der Aufstiegskanäle (S. 88f.) Schließlich vertritt er die rätselhafte These, dass „Apathie und Indifferenz […] sowohl die relative Stabilität als auch den abrupten Zusammenbruch des SED-Regimes“ verursacht hätten (S. 102). Er übersieht dabei, dass jene Apathie spätestens im Sommer 1989 die Seiten wechselte, von den bis dato braven „Unterschichten“ (um Bauerkämpers Kategorien zu bemühen) zu jenen sozialistischen Eliten, die den Bestand des Systems hätten verteidigen sollen. Die eminente Frage, wer warum und mit welchen Zielen seit dem 9. Oktober 1989 auf dem Leipziger Ring den öffentlichen Raum eroberte und die kommunistische Partei zwang, das Feld zu räumen, kommt in diesem Buch nicht vor.

Alles in allem findet der Leser eine Sozialgeschichte der DDR vor, die den Forschungsstand zu einigen wesentlichen Basisprozessen kompakt und ordentlich präsentiert, die jedoch vieles, zu vieles ausblendet, was das gesellschaftliche Leben in der SED-Diktatur prägte.

Anmerkung:
1 Heydemann, Günther, Die Innenpolitik der DDR, München 2003; Scholtyseck, Joachim, Die Außenpolitik der DDR, München 2003; vgl. die Rezension von Bauerkämper (sic!) zum Band von Heydemann, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 3 [15.03.2004], URL: <http://www.sehepunkte.historicum.net/2004/03/3738.html>.

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